Die wilde Frau hat sich vor etwa einem Jahr in meinem Leben bemerkbar gemacht. Oder treffender ausgedrückt: sie ist mit lautem Getöse in mir erwacht!
Eine liebe Freundin hat mir im letzten Sommer von der Mythologie um Lilith erzählt und mir das Buch „Die Wolfsfrau“ empfohlen (siehe Blogbeitrag). Ich schien eine Resonanz, eine Wahrheit in ihren Worten gespürt zu haben und bin glücklicherweise beiden Empfehlungen nachgegangen. Ganz natürlich begann eine Qualität in mir an Kraft zu gewinnen, die ich dank dem Wissen um den weiblichen Archetypus der wilden Frau benennen und (zumindest ansatzweise) verstehen konnte. Es fühlte sich an, als ob etwas längst Vergessenes und in mir brach Liegendes endlich wieder atmen konnte. Diese Energie war zwar neu, mir jedoch trotzdem nicht fremd. Im Gegenteil: in den vergangenen Monaten durfte ich erkennen, dass meine wahre und ureigene Natur darin bestand. Ich bin diese Kraft. Diese Wildheit, diese Kreativität, dieses Chaos. Sie war lediglich jahrelang geprägt, überlagert und verdeckt von übernommenen Glaubensmustern, Glaubenssätzen, von sich wiederholenden systemischen (Leidens-) Geschichten, Regeln, Strukturen.
Das letzte Jahr hat dermassen an mir und meinem Weltbild gerüttelt, dass die urweibliche Kraft in mir (endlich) die Chance hatte auszubrechen, sich frei zu machen. So wurde die Scheidung für mich zu einem der bisher wichtigsten, entscheidendsten und grössten Geschenke, das mir das Leben gemacht hat. Eine Initiation. Doch wie jede Geburt, passierte auch diese nicht ohne Schmerzen.
Das Integrieren und Leben der urweiblichen Kraft ist momentan ein grosses Thema für mich. Auf meiner Kommode türmen sich bereits viele spannende Bücher dazu! Gerne möchte ich in künftigen Beiträgen immer wieder davon berichten.
„Der Archetyp der Wilden Frau mit all seinen weitverzweigten Hintergründigkeiten fungiert als Leitbild für alle Künstler, Denker, Sucher und Finder, denn überall dort, wo etwas erfunden und neu geschaffen wird, ist der Naturinstinkt zu Hause. Ihre Eingebungen kommen aus dem Bauch, wie alles Spontane, Künstlerische und Schöpferische, denn „die Alte“, und das wissen wir, residiert nicht im Kopf, sondern in unseren Eingeweiden.
Sie ist die Kraft des Lebens, das nach jedem Tod neu aufersteht, der Mutterschoss. Sie ist die Intuition, das, was am weitesten in uns blickt, am allertiefsten zuhört – das unverbrüchlich treue Herz. Sie ermuntert uns, vielsprachig zu bleiben; perfekt in der Sprache der Träume, der Leidenschaften und poetischen Sinnbilder. Sie flüstert in nächtlichen Träumen und hinterlässt ihre Fussspuren auf unerforschten Seelenwegen. Jede Spur, die sie in uns hinterlässt, weckt die Sehnsucht, sie wiederzufinden, sie zu befreien und sie zu lieben.
Sie macht sich in Ideen, Gefühlsaufwallungen und vagen Erinnerungen bemerkbar. Sie war eine lange Zeit verloren und halbvergessen. Sie ist die Quelle, das Licht, die Nacht, die Dunkelheit und die Morgendämmerung. Sie ist der Geruch der Erde und das Hinterbein des Fuchses. Die Vögel, die uns Geheimnisse berichten, gehören ihr. Sie ist die Stimme, die sagt: „Hier geht’s lang. Hier.“
Sie ist es, die im Angesicht von Ungerechtigkeiten mit Donnerstimme grollt. Sie ist diejenige, die sich wie ein grosses Rad dreht. Von ihr stammen die Zyklen. Nach ihr suchen wir, wenn wir uns auf die Suche machen. Zu ihr kehren wir am Ende wieder heim. Sie ist die verborgene Wurzel aller Frauen. Sie ist das, was uns durchhalten lässt, auch wenn wir es für schier unmöglich halten. Sie ist der Brutkasten für unfertige kleine Ideen und Handlungen. Sie ist der Kopf, der uns denkt; wir sind die Gedanken, die sie denkt.
Wo finden wir sie? Wo spüren wir ihre Präsenz? Sie wandert durch die Wüsten, die Wälder, die Meere, die Städte, die Vororte und die Schlösser. Sie lebt unter Königinnen und Campesinas, im möblierten Zimmer, in der Fabrik, im Gefängnis, am Gipfel der Einsamkeit. Sie lebt im Ghetto, an der Universität und auf den Strassen. Sie hinterlässt für uns Fussabdrücke, um ihre Grösse zu probieren. Sie hinterlässt Fussabdrücke, wo immer es eine einzige Frau gibt, die fruchtbaren Boden darstellt.
Wo lebt sie? Am Grunde des Brunnens, im Oberlauf des Flusses, vor unserer Zeit. Sie lebt in der Träne und im Ozean. Sie lebt in den Bäumen. Sie gehört der Zukunft an und existiert seit Beginn der Zeit. Sie lebt in der Vergangenheit und wird von uns gerufen. Sie ist in der Gegenwart und hat einen Stuhl an unserem Tisch, steht hinter uns in der Schlange an und fährt vor uns auf der Landstrasse. Sie lebt in der Zukunft und geht in der Zeit zurück, um uns zu finden.
Sie lebt im Grün, das durch den Schnee herausspitzt, sie lebt im raschelnden Stroh des herbstlichen Kornfelds, sie lebt dort, wo die Toten hinkommen, um geküsst zu werden, und die Lebenden, um ihre Gebete zu senden. Sie lebt an der Stelle, wo die Sprache gemacht wird. Sie lebt von Viertelnoten und Verzierungen, in einer Kantate oder im Blues. Sie ist der Augenblick, bevor uns die Inspiration trifft. Sie lebt an einem weit entfernten Platz, der einen Durchgang zu unserer Welt hat.“
– aus „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés