Umarme auch die Schatten in dir

Den Schatten umarmen

by Rachel Galbiati

Jeder Mensch hat seine Abgründe. Das hört man zumindest immer wieder. Von mir selbst wollte ich das jedoch nicht glauben. Schliesslich habe ich mir das seit Kindertagen angeeignet: Eine gute, liebe, nette, anständige, fröhliche, tüchtige, hilfsbereite, ja, eben eine brave Tochter zu sein. Das ist tief in meinen Zellen gespeichert und, wie ich immer wieder feststelle, nicht so einfach abzustreifen. Dagegen spricht ja grundsätzlich auch nichts. Zumindest solange man nicht darunter leidet. Doch wenn die verinnerlichte Rolle zur Pflicht und zum selbst auferlegten Massstab wird, engt es ein, schnürt es ab. So erlebe ich es. Ohne es bewusst zu entscheiden, klammere ich alle „unanständigen“ und nicht tugendhaften Regungen in mir aus. Wenn sie kommen, dränge ich sie weg, schenke ihnen keine Beachtung, will sie nicht wahrhaben und rede mir ein, dass sie gar nicht da sind. Und wenn sie doch einmal übergross sind und sich nicht wegdenken lassen, verurteile ich mich dafür. Ja, ich bestrafe mich für meine eigenen Gedanken und Gefühle. Anteile, die meiner Meinung nach nicht in das perfektionistische Bild von mir selbst passen. Ein Bild, das ich zu erfüllen und dem ich zu genügen versuche. Weil brave Töchter haben früh gelernt: wenn du lieb und gut bist, dann wirst du geliebt. Dafür hat sich in meinen Augen jede Anstrengung gelohnt. Doch seit einer Weile zeigt mir das Leben, dass es Zeit ist, dieses Muster abzulegen. Weil es geht am Schluss – thank God! – nicht auf (… in verschiedenster Hinsicht. Darüber könnte ich einen Roman schreiben!). Und ob ich will oder nicht, ob es in mein Bild passt oder nicht, egal wie sehr ich mich dagegen wehre: auch ich habe böse Gedanken. Tatsächlich! Letzte Woche in der Lehrtherapie durfte ich aus aktuellem Anlass erkennen, dass die Dunkelheit auch zu mir gehört. Und dass ich sie nicht zu verleugnen brauche. Weil darunter oft eine weitere Geschichte steckt. Ich habe gemerkt, dass unter der vordergründigen Missgunst ein tiefer Schmerz liegt. Diese einfache und wichtige Erkenntnis hat auf einmal alles von mir genommen: ich brauche mich nicht zu verurteilen für meine unschönen Gefühle. Nein, weil ich spüren durfte, dass meine Empathie und mein Feingefühl daneben trotzdem koexistieren. Alles hat Platz, alles gehört zu mir, macht mich aus, hat eine Geschichte, einen Grund, einen Sinn, einen Ursprung. Ich weiss, dass die brave Tochter in mir unschuldig ist und es nicht besser wusste. Was gibt es da noch zu verurteilen? Im Gegenteil, ich habe mich gefragt: wie oft habe ich Gedanken und Gefühle, die ich nicht wahrhaben will? Im Alltag beobachte ich mich nun immer mal wieder: was denke ich wirklich darüber? Und es macht mir Spass, diese Gedanken zu hören, diese Gefühle zu spüren und sie einfach sein zu lassen, sie anzunehmen. Weil ich nun finde, dass sie ebenso ein Teil von mir sind. Und ich glaube, dass diese Erkenntnis mich ein Stück mehr von meinem selbst auferlegten Perfektionismus lösen wird.


„Ich ging freiwillig dorthin –

ich ging in meinen schönsten Kleidern,
ich trug erlesenen Schmuck,
auf dem Kopf die Krone der Himmelskönigin!
Mein Weg führte mich in die Unterwelt:
an den sieben Toren
wurden mir sieben Schichten
meines Seins genommen.
Die, die ich dachte zu sein, wurde gehäutet,
bis an ihrer Stelle die stand, die ich wirklich bin.
Dann sah ich sie:
Sie war riesig und dunkel,
sie roch unangenehm und war behaart.
Mit Löwenkopf und Löwenklauen
verschlang sie alles, was vor sie kam.
Ereskigal, meine Schwester!
Sie war alles, was ich nicht bin,
alles, was ich versteckte,
alles, was ich begraben hatte,
alles, was ich ablehnte.
Ereskigal, meine Schwester,
Ereskigal, mein Schatten,
Ereskigal, mein Selbst.“
– Den Schatten umarmen. Gedicht zur Göttin Inanna, aus „Göttinnen Geflüster“ von Amy Sophia Marashinsky

 

Ich freue mich, meine Abgründe zu entdecken, sie endlich anzuerkennen, sie wahrzunehmen. Ich freue mich, endlich ganz sein zu dürfen. Ja, SEIN zu dürfen. Mit allem, was mich ausmacht, mit allem was ich BIN. Und mich nicht zu zensieren oder in ein Bild zu zwängen, das ich nicht (mehr) erfüllen kann und will.

Ein Hoch auf Ganzheit, Wahrhaftigkeit und Authentizität.

 

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